Die globalen Lieferketten standen bereits seit der zweiten Hälfte des Jahres 2020 durch die Störung des globalen Schiffscontainersystems unter Druck. Während jedoch nach dem ersten Lockdown einige wenige Rohstoffe von extremer Verknappung betroffen waren, ist mittlerweile die Verfügbarkeit sämtlicher Grundchemikalien massiv beeinträchtigt.
Niedrige Erdölverarbeitung/-aufarbeitung (in Raffinerien) sorgt für breite Rohstoffverknappung
Der fragile Zustand der Weltwirtschaft lässt sich eindrucksvoll an der Entwicklung der Erdölindustrie erkennen. Wegen des wirtschaftlichen Einbruchs in Folge des ersten weltweiten Lockdowns war mehr Erdöl auf dem Markt als benötigt wurde. Öltanker auf der ganzen Welt konnten plötzlich nicht mehr entladen. Die Lagerhäuser an Land waren bis obenhin gefüllt, ebenso die Pipelines, und aufgrund der geringen Nachfrage nach Treibstoffen war kein Durchfluss vorhanden. Der weltweite Lockdown verursachte erstmals in der Geschichte negative Ölpreise: Ölproduzenten mussten dafür zahlen, dass ihnen der Rohstoff abgenommen wird.
Heute - ein Jahr später - ist die physische Nachfrage nach Rohöl aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie nach wie vor verhalten. Aktuell liegt sie immer noch knapp acht Millionen Fässer pro Tag niedriger als vor der Pandemie. Dementsprechend haben Förderländer wie Saudi-Arabien, Russland und die USA ihre Produktion gedrosselt.
Gleichzeitig ist weltweit die Nachfrage der Raffinerien gesunken. Wegen des drastisch gesunkenen Treibstoffverbrauchs wurde die Produktion seit Beginn der Pandemie stark reduziert oder auf Maintenance gestellt. In weiterer Folge ist davon die Herstellung petrochemischer Rohstoffe stark betroffen, die inzwischen zu einer extremen Verknappung von Basischemikalien geführt hat.
Viele Endprodukte von Rohstoffknappheit betroffen
Grundchemikalien auf Basis von Rohöl und Erdgas werden in 95 Prozent aller hergestellten Güter verwendet. Somit steht und fällt mit der Rohölproduktion und Raffinierung die Verfügbarkeit grundlegender Rohstoffe: Wird weniger Rohöl und Erdgas eingearbeitet und weiterverarbeitet, dann fehlen die Ausgangsmaterialien für eine Vielzahl anderer Chemikalien, die wiederum für Zwischen- und Endprodukte benötigt werden
Konkret bedeutet dies für die aktuelle Situation, dass durch den relativ niedrigen Raffinerie Output die Lieferkette bereits ganz am Anfang gestört ist. Mittlerweile zieht sich die Rohstoffverknappung bis zum Endprodukt. So hat etwa die niedrigere Ethylen- und Propylenproduktion zur Folge, dass es kein Ethylen- und Propylenoxid gibt und sämtliche Folgeprodukte wie Glykol und Polyester knapp werden. Selbst Konzerne stehen teilweise kurz vor dem Stillstand, weil sie produktionsrelevante Chemikalien nicht mehr bekommen.
Ein Blick auf untenstehendes Flussdiagramm verdeutlicht die Auswirkungen auf Endprodukte, wenn Raffinerien weiterhin auf Halblast fahren und die Lockdowns noch einige Monate andauern.
Petrochemicals: Flow/Raffinerieprozess
Ausgangsmaterial: Rohöl bzw. Naturgas/Erdgas
© Donauchem 2021
Mobilität steigt - Erdölförderung bleibt trotzdem niedrig
Die aktuellen Mobilitätsdaten von Apple zeigen, dass die Mobilität in Europa, Großbritannien und den USA seit Jahresbeginn 2021 wieder gestiegen ist. Das deutet darauf hin, dass eine breite Erholung des Gesamtkraftstoffverbrauchs an Fahrt aufnimmt. Allerdings verkündete kürzlich die OPEC+, ihre aktuellen Fördermengen beizubehalten, obwohl sie zuvor für April die Einführung einer zusätzlichen Fördermenge von 1,5 Millionen Barrel pro Tag in Aussicht gestellt hatte.
Hintergrund dieser Entscheidung sind niedrigere Nachfrageschätzungen für das zweite Quartal 2021. Begründet wurde dies mit den Auswirkungen, die „anhaltende Abriegelungsmaßnahmen, freiwillige soziale Distanzierung und andere pandemiebedingte Entwicklungen“ auf die Wirtschaftstätigkeit haben. Es bleibt also vorerst bei niedrigeren Förderquoten mit entsprechenden Auswirkungen auf die Basischemie.
Apple bestätigt: Mobilität steigt – Erdölförderung bleibt trotzdem niedrig
(Quelle:
covid19.apple.com/mobility)
Verschärfung der Rohstoffverknappung durch Force Majeure
Eine Welle von Force Majeures (FMs) in Europa setzt die ohnehin schon angespannten Chemiemärkte unter einen noch nie dagewesenen Druck, wobei die starke Nachfrage die Preise auf Rekordniveau ansteigen lässt. In mehreren Produktbereichen ist das Material so knapp, dass die nachgelagerte Produktion durch einen Mangel an Rohstoffen bedroht ist. Einige Unternehmen mussten FM wegen mangelnder Versorgung erklären, was äußerst ungewöhnlich ist.
Nach einer Analyse von ICIS sind derzeit 43 Produkte in Europa von Force Majeures betroffen, zusätzlich zu den bereits bestehenden globalen Lieferengpässen, die durch den US-Polarsturm und Werksschließungen im Nahen Osten und Asien verursacht wurden. Insbesondere die Unterbrechung wichtiger struktureller Ströme von den USA nach Europa aufgrund des Polarsturms und der Wettereffekte in Südafrika haben die Versorgung in Europa für viele importabhängige Produkte beeinträchtigt. Dazu zählen unter anderem Ethylenglykol, Ethanolamine, Methylmethacrylat (MMA), Methylacrylat, VAM, Schwefelsäure und Essigsäure.
Containermangel belastet Verfügbarkeiten in Europa
Die Störung des globalen Schiffscontainersystems begann bereits letztes Jahr und setzt sich auch im Jahr 2021 mit einem massiven Containermangel in Europa fort. Sieben der zehn größten Containerhäfen der Welt sind in China angesiedelt. Als Folge dieser Abhängigkeit sind insbesondere Chemikalien, die auf den Containertransport von China nach Europa angewiesen sind, von Verspätungen und explodierenden Kosten betroffen:
1. Knappe Schiffskapazitäten:
Die Kapazitäten der Schiffe sind derzeit durch den enormen Boom im Online-Handel voll ausgelastet. Alle verfügbaren Schiffe befinden sich auf See und sind auf Wochen ausgebucht.
2. Fehlende Container:
Im Zuge des ersten Lockdowns wurden weltweit Container ins Hinterland ausgelagert. Viele davon befinden sich nach wie vor nicht im Kreislauf.
3. Coronabedingte Einreisebeschränkungen:
An der US-Westküste kommt es aufgrund diverser Einfuhrbeschränkungen zu einem Stau von Containerschiffen und Wartezeiten von bis zu zwei Wochen. Infolgedessen fehlen in China Container für Schiffe nach Europa.
4. Verzögerte Abwicklung in Häfen:
Weltweit kann aufgrund der Corona-Situation in den Häfen das übliche Arbeitstempo nicht eingehalten werden, wodurch der Rücklauf leerer Container aus den USA und Europa nach Asien deutlich länger dauert als zuvor.
5. Verlagerung auf Pazifikrouten:
Container-Reedereien verlegen ihre Transporte aus Asien auf den Westpazifik, um die hohe Nachfrage aus den USA zu bedienen. Als Folge stehen weniger Schiffe zwischen Asien und Europa zur Verfügung.
6. Havarie im Suezkanal:
Eines der größten Containerschiffe der Welt hat sich am 23. März im Suezkanal quer gestellt und blockiert die wichtige Transportverbindung zwischen Europa und Asien. Je länger die Sperrung dauert, desto drastischer werden die Auswirkungen auf die Produktion und Verfügbarkeit von Waren in Europa sein.
Zusammengefasst bedeutet dies Containermangel auf Frachtrouten, Container- und Warenstau in Zielhäfen sowie über Wochen ausgebuchte Frachtschiffe. Mit einer Entspannung dieser Situation ist unserer Einschätzung nach vor Juli 2021 nicht zu rechnen. Zusätzlich könnte sich die Blockade des Suezkanals auf den Welthandel auswirken, denn der Suezkanal verkürzt die Schifffahrtswege zwischen Europa und Asien erheblich.
Extreme Preissteigerungen seit November 2020
Die Rohstoffpreise in Europa sind aufgrund der Knappheit innerhalb der letzten Wochen in vielen Bereichen auf das 5-fache angestiegen. Das geht mittlerweile sogar soweit, dass die Rohstoffe teurer als das Endprodukt sind (z.B. Tenside). In Hinblick auf die Verfügbarkeiten in Europa kommt verschärfend hinzu, dass in Europa produzierte Ware vielfach exportiert wird, weil derzeit in Asien und den USA bessere Preise für Rohstoffe erzielt werden können - ein absolutes Novum, das gab es bisher noch nie!
Gleichzeitig ist es seit November zu einer regelrechten Explosion der Frachtpreise gekommen, die Mitte Januar mit einer Verteuerung um das Drei- bis Vierfache ihren Höhepunkt fand. Inzwischen sinken die Frachtraten langsam wieder. Nach Angaben des Drewry World Container Index (WCI) liegen die Kosten für einen 40-Fuß-Container im Verkehr von Asien nach Europa aber immer noch um mehr als 300 Prozent über den Kosten des Vorjahres.
Quelle:
https://www.drewry.co.uk/supply-chain-advisors/supply-chain-expertise/world-container-index-assessed-by-drewry
Fazit: Rohstoffverknappung betrifft alle Basischemikalien
Der Investitionsfokus auf Kapazitäten in Asien auf Kosten von Europa und eine starke Abhängigkeit von Importen aus Asien oder den USA hat die Verwundbarkeit Europas offengelegt. Die gestörten Importströme aus Asien und dem US-Golf in Verbindung mit einer schwachen Erdölproduktion und einer Kette von Force Majeures beeinträchtigt inzwischen jede Stufe der Wertschöpfungskette – bis hin zum Endprodukt. Sollten die Lockdowns in dieser Form weiter andauern, ist mit einer gravierenden Verbesserung der Rohstoffverfügbarkeit nicht zu rechnen.
www.donauchem.at
Weiterführende Links/Downloads:
Whitepaper Rohstoffverknappung Q2/2021
Rohstoffverknappung auch im Möbelhaus angekommen (Der Standard, 20.Juli 2021)
Wachstumsbremse der Baustoffbranche - Rohstoffmangel (Industriemagazin, 4.August 2021)
Das Spiel mit den Rohstoffen (FarbeundLack.de, 10.Jan. 2022)